• Botschaften im Goldenen Licht

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Winternacht (eine Weihnachtsgeschichte)

Es ist kalt in jener Winternacht.
Frierend sitzen die Hirten am Feuer.
Sie sprechen nicht viel. Ab und zu stochert einer im Feuer. Dann lodern die Flammen wieder auf und erhellen die Gesichter der Männer. Es sind alte, zerfurchte Gesichter,, die von heisser Sonne und kalten Nächten im Freien erzählen. Auch Hunger und Entbehrungen scheinen ihnen nicht fremd zu sein, ebenso wenig harte Arbeit. Jeder hier trägt seine Geschichte mit sich, seine Hoffnungen, seine Enttäuschungen.

Merkwürdig: Heute scheint alles so ruhig zu sein. Der starke Wind vom Nachmittag hat sich gelegt, nur die Kälte hat sich gehalten. Die Schafe liegen kauend beieinander, keines blökt, auch die Lämmer nicht. Auch sie scheinen in Gedanken versunken. Die Hunde liegen zusammengerollt am Feuer und dösen. Nur ab und zu blinzelt einer und gähnt herzhaft, um gleich wieder einzuschlafen.

Der alte Simon knetet seine Finger.
Irgendetwas scheint sich da anzukündigen.
Die Ruhe vor dem Sturm! Fährt es ihm durch den Kopf. Oh weh, und sie sind so weit von den nächsten Höhlen entfernt! Und nach Bethlehem ist es auch ein tüchtiges Stück Weg – abgesehen davon, dass sie dort ihre vielen Schafe nicht in Sicherheit bringen könnten.
Aufmerksam betrachtet er die Tiere. Solange sie so ruhig sind, entscheidet er, ist nichts Gefährliches zu erwarten.
Was aber liegt in der Luft?

Michael gehört noch nicht lange zur Schar der Hirten. Er ist der Jüngste und hat noch einiges zu lernen. Als Neuling muss er ab und zu einen Streich von Seiten der anderen einstecken, sich gelegentlich auch eine Zurechtweisung gefallen lassen. Dann überkommt ihn jeweils das Heimweh nach den Seinen, die jetzt zuhause beisammen sind, während er da draussen im Freien und unter Fremden leben und schlafen muss. Aber das ist nicht zu ändern und so ergibt er sich jeweils seufzend in sein Schicksal. Allerdings, so muss er sich ehrlicherweise eingestehen, scheinen ihn die andern Hirten zu akzeptieren und sind offenbar froh um seine Mitarbeit. Besonders der alte Simon schenkt ihm immer wieder einen warmen Blick, wenn er zufrieden ist mit ihm.
Dieser scheint heute Abend aber unruhig zu sein, denn schon lange bearbeitet er seine Hände. Das ist eine ungewohnte Unruhe an diesem Mann, den sonst nichts zu erschüttern vermag.
Was ihn wohl beschäftigt?

Helles Licht und melodiöser Gesang wecken Michael. Er muss eingenickt sein am Feuer. Er springt auf, gleich den andern, und staunt zum Himmel. Die Sinne drohen ihm zu schwinden. Welches Licht! Welch wunderbare Wesen! Welch wunderbarer Gesang!
Ob er wohl träumt? Oder ist er, am Feuer sitzend, gestorben und gleich ins Paradies gekommen? Mit all den andern Hirten, den Schafen und den Hunden?

Nur langsam beginnt er die Worte zu verstehen, welche die wunderbaren Wesen singen: Von einem göttlichen Kind erzählen sie, von einem Retter aus der Not, von einem König der Könige.
Na und? Kinder werden doch ständig und überall geboren und Könige gibt es doch schon genug – was soll an diesem Kind anders sein?
Michael ist verwirrt.

Aber welche Freude diese lichtvollen Wesen offenbar empfinden wegen dieses Neugeborenen! Und merkwürdig, diese Freude wirkt auf einmal so ansteckend!

Eine tiefe Sehnsucht beginnt Michaels Innerstes zu ergreifen, nimmt richtig Besitz von ihm. Er möchte dieses Kind sehen, es berühren, ihm etwas bringen. Am liebsten würde er gleich loslaufen, quer über die Felder, ohne länger nachzudenken!

Langsam verschwinden die lichtvollen Wesen, es wird wieder Nacht. Aber in den Ohren, im Kopf, im ganzen Körper spüren die Hirten immer noch die wunderschöne Musik, empfinden sie noch immer diese wundersame Helligkeit. Und in jedem wächst das Verlangen, dieses Kind, das so anders und so heilig sein soll, zu suchen, zu be-suchen.
Einer von ihnen erinnert sich, dass die wundersamen Wesen von einem Stern gesprochen haben und dass das Kind dort zu finden sei. Und richtig: Dort, wo Bethlehem liegt, sehen sie einen Stern hell leuchten, so hell, wie sie noch nie einen leuchten gesehen haben.

Jetzt kann sie nichts mehr halten. Schon wollen sie alle losstürmen, da mahnt der alte Simon: «Halt, einer muss da bei den Schafen bleiben!» Betreten schauen sich die Hirten an, dann sammeln sich die Blicke auf Michael. «Du bist der Jüngste!»

Oh nein!
Der junge Hirte wendet sich ab, geht zurück zum Feuer, schaut die andern nicht mehr an. Tränen der Wut und der Enttäuschung schiessen ihm in die Augen. Wieder er!
Es ist ihm heute nur ein kleiner Trost, dass sein Hund kommt und ihm den Kopf in  den Schoss legt. Im Gegenteil, jetzt laufen ihm die Tränen ungehindert übers Gesicht.

Michael muss wieder eingeschlafen sein. Das Feuer ist beinahe erloschen, nur noch einige Glutreste glimmen ab und zu auf. Es ist bitter kalt. Trotzdem rührt er sich nicht.

«Steh auf!» hört er auf einmal eine feine Kinderstimme. «Lass das Feuer nicht ausgehen, die Nacht ist ja so kalt.»

Verwundert nimmt Michael einen Stock in die Hand, stochert in der Glut, bringt das Feuer mit Pusten und Holz Nachlegen wieder zum Brennen. Er wärmt sich die klammen Hände und Füsse.

«Siehst du», ertönt da dieselbe Stimme wie vorher, «wie froh du bist um die Wärme des Feuers! Schau, es ist wichtig, dass du deinen Platz nicht verlässt und deine Aufgabe erfüllst. Geh, schau jetzt jetzt nach deinen Tieren und komm dann wieder zurück!»
Der junge Hirte gehorcht, wenn auch etwas verwirrt. Er macht die Runde, kontrolliert, ob noch alle Schafe da sind. Diese schlafen oder kauen und wirken sehr zufrieden.

Auch Michael fühlt sich etwas besser. Obwohl er keine Ahnung hat, wer da in der Dunkelheit der Nacht mit ihm spricht, hat er keine Angst. Im Gegenteil, er fühlt sich unendlich wohl, wenn er diese sanfte Kinderstimme hört.

Er kehrt zum Feuer zurück, legt Holz nach, bereitet sich einen heissen Tee zu.

«Ich bin froh, dass du dich besser fühlst», hört er wieder die Stimme. «Manchmal ist es wirklich schwierig zu gehorchen, ich weiss. Dafür mache ich dir nun ein Geschenk. Die andern mussten den weiten Weg nach Bethlehem gehen, um mich zu sehen. Du aber hast deine Pflicht getan, wenn auch ungern. Aber ich weiss um dein tiefes Verlangen, mich zu sehen, mich kennen zu lernen.
Schau fest ins Feuer!»

Und Michael erblickt das Kind, dieses so andere, so heilige Kind, wie es da irgendwo in Bethlehem in einer Krippe liegt. Es ist umgeben von diesem wundersamen, hellen Licht, wie er es in dieser Nacht schon einmal gesehen hat.
Und dieses Kind scheint ihn anzulächeln, genau ihn.

«Ich segne dich, Michael», sagt die feine Kinderstimme von vorher. Du gehörst zu mir und du wirst für immer zu mir gehören. Wann immer du mich brauchst, werde ich für dich da sein. Höre in deinem Herzen auf meine Stimme – ich werde zu dir sprechen. Vertraue mir!»

Das Kind lächelt Michael immer noch an, dann, langsam, verschwindet sein Bild.

Tief erschüttert sitzt der junge Hirte da. Er zittert und Tränen rollen über sein Gesicht.
Lange schaut er ins Feuer, halb blind, und versucht zu verstehen.

Als der Morgen naht, steht er auf und beginnt, für sich und die andern Brei zu kochen.
Sein Leben, das spürt er mit aller Deutlichkeit, wird nie mehr so sein wie früher.



©Monika Brechbühler